DEAKO
Halt! Stop! Bei Fuß!" Nichts, keine Reaktion.
Keine Macht der Welt hätte Deako in diesem Moment zurück halten können, am allerwenigsten er sich selbst. Das wochenlange Training auf dem Hundeplatz, das mich so ganz nebenbei einige Hunderter gekostet hatte, schien für die Katz' gewesen zu sein - genauer gesagt, für den Igel. Das, was die zwar verborgenen aber tief im Innern für alle Zeiten verankerten Urinstinkte in meinem treuen Begleiter geweckt und ihn so sehr aufgebracht hatte, lag wenige Schritte vor uns am Rand der Landstraße: Ein toter Igel. Viel war von seiner ursprünglichen Form nicht mehr zu erkennen. Ein undefinierbarer Fleischklumpen, so als ob sein Inneres nach außen gekehrt worden wäre; ein Lebewesen, dessen Körper seines Aussehens zu Lebzeiten beraubt worden war, das ich nicht mehr hätte erkennen können, wäre da nicht... ich stutzte, musste mehrmals hinsehen. Wäre da nicht sein Kopf gewesen, der gänzlich unversehrt mich aus toten Augen lebendig anzusehen schien. Hätte mir vorher jemand erzählt, dass Igel lächeln können, ich hätte ihn ausgelacht, doch dieser Igel war unzweifelhaft mit einem Lächeln im Gesicht gestorben. Urplötzlich erstarrte Deako, wurde zur lebenden Statue - alle Muskeln aufs Äußerste angespannt, die Zähne fletschend, entrang sich ein bösartiges Grollen seiner Kehle. Ein leises Rascheln aus dem Maisfeld, das sich mehrere Hundert Meter die Straße entlang zog und dessen Tiefe nicht einzusehen war, schlich sich in die Luft, wurde nur wenig lauter, kam aber dennoch näher. Im gleichen Moment, als Deako aus seiner erstarrten Haltung heraus seine ganze Kraft in einen gewaltigen Sprung legen wollte, öffnete sich eine Bresche am Maisfeldrand. Urplötzlich sprangen zwei fast nackte junge Menschen - sie mögen Anfang zwanzig gewesen sein - hervor und konnten sich vor lachen kaum halten. Tanzend sprangen sie um den Igel, sangen mit identischen Stimmen: "Der ist tot, der ist tot, so tot wie tot nur sein kann". Mit einem angedeuteten Kopfnicken verabschiedeten sie sich, fassten sich an den Händen und gingen auf dem Weg voran, der vor mir lag. Kaum waren sie um die Biegung verschwunden, sah ich sah mich nach meinem Hund um - das Auftauchen der beiden hatte mich so sehr abgelenkt, dass ich ihn völlig aus den Augen verloren hatte. Deako ist ein mutiger Hund, manchmal sogar ein Draufgänger. Ungläubig erblickte ich ihn nun am Feldrand, winselnd, den Schwanz eingeklemmt, voller Furcht, so hatte ich ihn noch nie erlebt. Ringsum herrschte eine unnatürliche Stille, die Hitze wurde unerträglich. Da trat fast lautlos aus der Bresche, die die jungen Leute im Maisfeld hinterlassen hatten, ein im Flimmern der Luft in seinen Umrissen waberndes Wesen hervor, das sich beim Näherkommen zu einer uralten Frau mit einer franseligen Wollmütze auf dem Kopf stabilisierte. "Frösche mit nur drei Beinen haben keine große Lebenserwartung, nur im Mittenfeld im Teich", flüsterte sie und öffnete ihre Hand, in der sie einen toten Frosch hielt, dem das rechte Hinterbein fehlte. An der Körperstelle, an der es normalerweise seinen Platz gehabt hätte, war keine Wunde oder Narbe zu erkennen. Das Tier schien derart missgebildet auf die Welt gekommen zu sein und... es sah nicht nur so aus, es war sehr alt geworden. Aus der Ferne war ein Lachen zu hören. Mir sträubten sich die Nackenhaare, es war das Lachen des seltsamen Paares. "Auch der ist tot, auch der ist tot, sah lange schon kein Morgenrot", trug ein leichter Windhauch ihren erneuten Gesang zu mir herüber. Die Frau schloss ihre Hand um den toten Frosch und ging auf dem Weg voran, der vor mir lag. Bevor sie hinter der Biegung verschwand, rief sie mir zu: " Falsch ist's, gehst nicht gehst gleich zum Teich!"
Bevor ich mir klar machen konnte, was mir die Alte mit diesen verklausulierten, ja verworrenen Worten sagen wollte - war es eine Aufforderung, dem schmalen Pfad in das Feld zu folgen oder war es eine Warnung, genau dies nicht zu tun - wurde mir die Entscheidung abgenommen. Deako bellte kurz, bevor er zwischen den mannshohen Maispflanzen verschwand. Mir blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. Nach wenigen Minuten durch den rechts und links von gleich aussehenden Pflanzen gesäumten Weg hatte ich die Orientierung gänzlich verloren. Da tat sich zu meiner Erleichterung mitten im Feld eine Lichtung auf. In ihrer Mitte stieg aus einem Teich mit spiegelglatter Oberfläche leichter Nebel auf. Die Erleichterung wich schnell angespannter Wachsamkeit, als hinter einem Hügel am Rand des Wassers eine Person auftauchte. Der hagere Mann als solcher wäre mir nicht als Bedrohung erschienen, wären da nicht seine martialische Kleidung, die mich an einen südamerikanischen Freiheitskämpfer denken ließ, und vor allem die Waffe gewesen, die er auf mich richtete. "Sie haben die Anweisung missachtet", schnauzte er mich an. Jetzt erst sah ich die Hinweistafel, auf der in fetten roten Buchstaben auf grell gelbem Grund die Aufforderung "WEGSEHEN" stand. "Wie hätte ich dem Folge leisten können, selbst wenn ich es gewollt hätte, ohne hinzusehen", fragte ich eher belustigt. Das Ganze erschien mir wie eine komödienhafte Inszenierung. "Darüber muss ich nicht nachdenken. Ich muss sie erschießen. Dafür bin ich hier." Die Sätze des Mannes klangen mechanisch, ohne jegliche Emotion und mit starren Gesichtszügen vorgetragen. Ich beschloss, mich auf das Spiel einzulassen - amtlichen Bedenkenträgern begegnet man am Besten mit einer amtlichen Sprache - und erwiderte so ruhig und entschieden, wie es mir gerade möglich war: "Falsche Entscheidung. Ich bin eingeteilt, die Tiere zu füttern. Heute Abend! Dafür bin ich da. Geben Sie mir die Waffe." Ohne mit der Wimper zu zucken, setze mein Gegenüber die Waffe an seine Schläfe. Mit den Worten "Dann bin ich überflüssig" drückte er ab und fiel lautlos und tot zu Boden. Als Beauftragter des Ministeriums zur Kontrolle der Befolgung der Tageserlasse hatte ich schon viele derartige Situationen zu bewältigen gehabt. Doch was nun geschah, irritierte mich. Die Wasseroberfläche des Teichs bewegte sich auf den Toten zu, dessen Körper sich selbst zu verflüssigen schien. Erst langsam und zäh, dann immer schneller werdend, bis das Teichwasser das Totenwasser in sich aufnahm und sich zurückzog, so als ob nichts geschehen wäre. Mein Aufgabenbereich ließ keinen Spielraum: Die Sache fiel in eine Nachvollzugs-Kategorie, musste also, so ärgerlich und arbeitsintensiv dies auch war, als Besonderheit dieser Inspektionssequenz eingestuft werden.
Deako spitze die Ohren, lange bevor auch ich das trockene Rascheln in unserem Rücken registrierte. Ich blickte zurück und sah gerade noch, wie die Gasse sich schloss. Der Hund zögerte nicht und lief auf den Hügel zu, hinter dem der unglückliche Wächter hergekommen war. Ich folgte ihm. Vor einem Eingang zu einer Höhle hockte eine Anzahl menschenähnlicher Kreaturen, sabbernd, mit deformierten Gliedmaßen und naiv grinsendem Gesichtsausdruck. Während sie an Knochen knabberten, deren Herkunft ich lieber nicht erfahren wollte, murmelten sie einzelne Worte vor sich hin. "Weita, weita, gehndu, gen-gen". Brocken, deren Klang nicht drohend, eher drängend und bestimmt war, unterstützt durch ruckartige Gebärden. Zu einem dieser Geschöpfe hatte sich Deako gesellt, sie beschnüffelten sich und tauschten knurrende Laute aus. Verstanden sie sich? Es musste so gewesen sein, mein treuer Deako rannte auf mich zu und drängte mich in eine ganz bestimmte Richtung, aus der dichter Nebel quoll. Ich konnte keinen Meter weit sehen, ließ mich aber durch das undurchsichtige Nichts leiten und gleiten, das sich unsichtbar vor uns auftat und direkt dahinter wieder auflöste. Urplötzlich wurde der watteähnliche Nebel von einer undurchdringlichen Schwärze abgelöst, die mit einem lauten Kreischen, ähnlich dem von auf Metallschienen blockierenden Metallrädern hervorgerufenen, dem grellen Tageslicht wich. Mir brannten die Augen, es dauerte einige Minuten, bis ich wieder etwas erkennen konnte. Wissend blickte Deako mich mit schräg gehaltenem Kopf an, tänzelte um mich herum, wie er es immer tat, wenn wir uns unterwegs nach einer Pause wieder aufmachten. Wir hatten noch einen weiten Weg vor uns... auf der Suche nach dem Ursprung, nach den Verantwortlichen für die Katastrophe, die nun schon so lange hinter uns lag, die uns an den Rand des Abgrunds gebracht hatte und die immer noch nicht geklärt worden war. Wir waren zuversichtlich... (jago)
... may be continued